Wie lange mussten wir jetzt warten?
Waren es Wochen oder gar Monate?
Wie oft haben wir uns nach ihnen gesehnt?
Egal ob morgens, mittags oder abends, wie oft haben wir sie uns verzweifelt herbeigewünscht?
Und wieso haben sie sich so lange vor uns versteckt?
Und auch ohne eine einzige dieser Fragen beantwortet zu haben, sind sie nun endlich da.
Ganz plötzlich, ganz leise und ohne Ankündigung haben sie den Weg zurück in unser Leben gefunden:
Die ersten Sonnentage des Jahres.
Schon den dritten Morgen in Folge erwache ich mit einem wohlig warmen Schein auf meinem Gesicht. Ob ich schon beim Einzug wusste, dass mein Schlafzimmer auf der Ostseite des Hauses liegen würde? Ich öffne die Augen und spüre ein breites Lächeln auf meinen Lippen, welches der lachenden Sonne nicht im Geringsten nachsteht. Selten konnte ich mich so schnell aus den Fängen meines Bettes befreien, nur um sogleich das Fenster bis zum Anschlag aufzureißen und einen tiefen Atemzug der kühlen und sonnendurchfluteten Luft zu nehmen. Sie riecht und schmeckt eindeutig besser als noch vor wenigen Wochen.
Meine Augen wandern zu den verschwommenen Umrissen des Sonnenballs und verengen sich sogleich zu kleinen Schlitzen. Ich muss in den letzten Monaten wohl vergessen haben, dass man die Schönheit der Sonne nicht mit bloßem Auge erblicken kann. Kleine schwarze Flecken tanzen vor meinen Augen hin und her und verführen mich immer wieder zum unkontrollierten Blinzeln. Ich erhasche einen Blick auf die sich im Wind wiegenden, noch unbeblätterten Baumkronen, auf verschiedene Hausfassaden, die im Schein der Sonne so viel schöner und sauberer aussehen und bleibe letztendlich an den kleinen sich fortbewegenden Figuren dort unten auf der Straße hängen. Ihre Jacken sind geöffnet, ihre Schritte voller Energie und wenn ich genauer hinschaue, erkenne ich in fast jedem ihrer Gesichter ein breites Grinsen. Oder bilde ich mir das nur ein? So weit entfernt kann ich das doch unmöglich ausmachen, oder? Vielleicht übertrage ich meine gute Laune automatisch auf die mir völlig fremden Passanten. Womöglich sehe ich sie, im wahrsten Sinne des Wortes, in einem anderen, sehr viel helleren und schöneren Licht. Oder habe ich einfach nie darauf geachtet? War es mir egal, ob sie ein Lächeln im Gesicht trugen oder nicht? – Ich weiß es ehrlich gesagt nicht.
Aber während ich mir darübernoch den Kopf zerbreche, meldet sich ein weiterer meiner Sinne, der mich für einen kurzen Moment all die Fragen vergessen lässt. Ein leises, aber doch sehr nahes Summen durchdringt die Stille. Unweigerlich zucke ich mit meinem Kopf ein Stück zurück und versuche herauszufinden, was das Summen verursacht hat. Und dort, direkt vor meiner Nase auf der glänzenden Fensterbank, sitzt sie. Eine kleine Fliege. Eigentlich nichts Besonderes sollte man meinen, von denen gib es auch im tiefsten Winter mehr als genug. Aber wie sie dort sitzt, im Schein der Sonne, wirkt es fast so, als würde auch sie die ersten Sonnenstrahlen genießen und sich freuen, dass die eingeschlafene Natur endlich wieder zum Leben erwacht ist. Ihr Körper dreht sich langsam von einer Seite zur anderen, als versuche sie die ganze Gegend auf einmal zu entdecken. Ob ich für sie wohl ein ähnliches Bild abgebe?
Ich fixiere sie weiterhin, als meine Ohren erneut ein Geräusch vernehmen. Moment, es sind sogar mehrere Geräusche. Ich höre Autos, höre das Klingeln einer Straßenbahn, höre das Bellen eines Hundes und zwischendurch immer wieder ein ganz zaghaftes und leises Vogelzwitschern. Haben die Vögel erst jetzt angefangen ihr Lied zu singen? Waren all diese Geräusche vorher auch schon da? Unmöglich! Oder doch? Habe ich sie einfach nicht wahrgenommen? Fragen über Fragen an diesem wunderschönen Morgen. Und doch sind all ihre Antworten so schrecklich irrelevant.
Seit Stunden muss ich nun schon am geöffneten Fenster stehen. Oder waren es doch erst Minuten? Es ist kühl, aber je länger ich hier bin, desto wärmer wird es auf meiner Haut. Trotz des frischen Windes spüre ich die Wärme der Sonnenstrahlen. Spüre, wie sie sich auf meinem ganzen Oberkörper ausbreitet und mich wie eine kuschelig warme Decke umschließt. Nun hält es mich einfach nicht länger. Ich will mehr, mehr von dieser Wärme, mehr von diesem wohligen Gefühl. Und es vergehen nur wenige Momente und ich befinde mich ebenfalls auf den Straßen der Stadt. Jetzt bin ich nicht mehr der Beobachter, sondern ein fester Bestandteil dieses morgendlichen Schauspiels. Ob mich in diesem Moment auch jemand aus seinem Fenster heraus betrachtet? Und ob ihm auch so viele verschiedene Gedanken durch den Kopf gehen? Versucht er ebenso herauszufinden, ob ich ein Lächeln im Gesicht trage? Unweigerlich grinse ich noch breiter. Ja, schau mich an! Und wie ich lächle!
Ich ziehe durch die mir vertrauten Gassen. Vorbei an dem alten Mann, der wie jeden Tag vom Wetter ungeachtet auf seinem Balkon sitzt und eine Zigarette nach der anderen raucht. Einige Sachen scheinen sich einfach niemals zu ändern. Streife vorbei an einem Kindergarten, aus dem ich lautes Lachen und wildes Geschrei vieler Kinder vernehmen kann. Vorbei an unzähligen Autos, Läden und Menschen, die es nicht eilig zu haben scheinen schnell ins Warme zu kommen. Sie wirken im Gegensatz zu den letzten Wochen alle so fröhlich und unbekümmert. Mir komplett unbekannte Personen schenken mir ihr schönstes Lächeln. Und das in so einer großen und anonymen Stadt. Irgendwie befremdlich. Aber warum ist das eigentlich so frage ich mich. Warum fällt es den Leuten heute sehr viel leichter zu Lächeln als noch in der letzten Woche? Sind wir alle so leicht zu manipulieren? Ändert die Sonne wirklich etwas an unseren derzeitigen Lebenssituationen? Haben wir denn sonst gar nichts zu lachen?
Und dann stelle ich mir die Frage, was wohl in dem Kopf eines Kindes vor sich gehen würde. Spielt und lacht der Nachwuchs nicht auch bei dem miesesten Wetter? Würde ein Kind bei Sturm und Hagel auch automatisch schlechte Laune haben? Würde ein Kind bei der Frage nach dem Weg oder der Uhrzeit muffig und genervt antworten? Nein, mit Sicherheit nicht. Ich stelle mir vor, wie leicht und unbeschwert das Leben als junger Mensch war. Ich habe dieses Bild vor Augen, wie ich im schlimmsten Regenschauer meine Gummistiefel schnappe und voller Freude raus ins Nasse stürme. Verspüre das Verlangen in jede einzelne Pfütze zu springen und mich von oben bis unten mit Schlamm zu beschmutzen.
Und plötzlich gibt es einen Szenenwechsel in meinem Kopf. Aus dem Regen wird Schnee und aus dem braunen Matsch wird eine weiße Spielwiese. Schneeballschlacht, Schlittenfahren, Schneemannbauen – nichts wünsche ich mir gerade sehnlicher. Und ich muss lachen, so laut lachen. So laut, dass es mich aus meinem kleinen Tagtraum herausreißt und ich mich beschämt in der Gegend umherschaue. Aber warum fühle ich mich peinlich berührt? Weil ich Sorge habe, jemand könnte mein lautes Lachen gehört haben? Weil mir jemand meine gute Laune anmerken könnte? Komisch, worüber ich so nachdenke. Was würde mir durch den Kopf gehen, wenn der junge Mann neben mir scheinbar grundlos anfängt zu lachen? ‚Komischer Kauz‚ würde ich vermutlich denken. Aber warum nur? Ist es ein Verstoß gegen die Etikette öffentlich zu Lachen? Nein, aber wieso verhalten wir uns dann so? Die Welt oder besser gesagt das, was wir Menschen daraus gemacht haben, ist manchmal wirklich sehr merkwürdig.
Ich stehe mittlerweile an der Haltstelle und warte auf den wie üblich völlig überfüllten Bus. Noch immer frage ich mich, ob jemandem der Mitwartenden mein kurzer Ausbruch aufgefallen sei. Aber selbst wenn, sind sie alle sehr bemüht diesen sorgsam zu ignorieren. Sie tippen entweder auf ihren allzu modernen Handys herum oder starren mit leerem Blick in die Ferne. Das jedenfalls unterscheidet sich kaum von den trüben und kalten Wintertagen. Aber auch sie wirken weniger genervt und das trotz Verspätung des Busses. Wieso sind wir nur so schrecklich leicht beeinflussbar was unsere Stimmung angeht? Und warum müssen wir das auch bloß jedem zeigen, wenn wir schlecht gelaunt sind? Kein Lächeln, keine Freundlichkeit, keine Hilfsbereitschaft, nur weil in unserem eigenen Leben mal wieder etwas schief gelaufen ist und kaltes Regenwetter uns in unseren trüben Gedankengängen bestätigt? Aber passiert das nicht jedem irgendwann mal in seinem Leben? Und scheint früher oder später nicht trotzdem wieder die Sonne und das ganz unabhängig vom Wetter? Ist es nicht wichtiger, dass die Sonne in unseren Köpfen und Herzen scheint?
Wieder so viele Fragen, auf die mir mit Sicherheit hunderte von Antworten einfallen würden, über die ich aber gar nicht nachzudenken vermag. Viel zu kompliziert würden sie sein. Und viel zu unwichtig ist es, all das bis ins kleinste Detail zu analysieren. Und bevor ich auch nur noch einen weiteren Gedanken daran verschwenden kann, erblicke ich den langsam eintrudelnden Bus. Ich geselle mich zu den eng aneinander gereihten Fahrgästen und bleibe schließlich irgendwo zwischen den Locken einer wohlduftenden, älteren Dame und dem Rucksack eines riesigen Mannes stecken. Hier, in den Tiefen der schwankenden Menschenmasse, ist es zwar sehr viel wärmer, allerdings auch um einiges stickiger und dunkler als noch vor wenigen Minuten.
Das ist wohl mein Zeichen endlich den Kopf abzuschalten, denn auf meine wilden Spekulationen, wer von all diesen Menschen denn eigentlich auf die morgendliche Dusche verzichtet hat, bin ich nicht sonderlich scharf. Mit einer schnellen Handbewegung greife ich trotz Platzmangel in meine Tasche, ziehe an meinen Kopfhörern und schwinge sie mir leichtfertig über den Kopf. Wie oft habe ich diese Prozedur in den letzten Jahrzehnten vollzogen..? Sie schmiegen sich sanft und bestimmt an meine Ohren und ich merke: Jetzt ist der Morgen erst wirklich perfekt! Ich drücke auf Play und spüre sogleich, wie sie heute ein zweites Mal für mich aufgeht:
Die Sonne.
Das haett es frueher nicht gegeben PODCAST #10: Olle Susi
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Eine Antwort auf Waited For The Sun