Freitagmorgen in einer Wohnung in Hamburg-Winterhude. Der Frühstückstisch ist gedeckt, die Eier schön brav in ein Handtuch gewickelt, die Brötchen im Korb, der Orangensaft in eine Karaffe umgefüllt… und überhaupt ist alles so, wie man sich so ein richtig leckeres Frühstück vorstellt. Die beiden, die den Tisch so hübsch hergerichtet haben, werfen noch mal einen letzten Blick auf ihre Blöcke; denn gleich kommt der, für den der ganze Aufwand hier betrieben wird. Ein Künstler, der schon richtig lange dabei ist, so lange, dass er für die beiden Redakteure durchaus auch ein bisschen Held der Jugend ist, und wenn man genau so einen zu sich nach Hause einlädt, dann darf auch schon mal ein bisschen Nervosität vorherrschen.
Boris Dlugosch – unter anderem wird auch das im Interview geklärt – darf man durchaus zur Alten Schule der Elektro-Szene zählen. Seit 1986 ist der Hamburger im Geschäft, als DJ und als Produzent. Diverse Äras der elektronischen Tanzmusik hat er mitgemacht und mit Hits, die ohne falsche Bescheidenheit als absolute Klassiker bezeichnet werden dürfen, eben diese Äras mitgestaltet. „Sing it back“, sein sicher größter Hit, ist so zeitlos, dass er auch heute immer noch in zahlreichen Sets gespielt wird.
Um Punkt Neun klingelt es und Boris kommt die Treppe heraufgeeilt und strahlt uns an „Hättet ihr nicht gedacht, dass ich so pünktlich bin, ne?“ Hätten wir wirklich nicht, denn die Parksituation in dieser Gegend ist prekär.
Dies ist der Auftakt für eine amüsante Runde, die sich nicht ein bisschen an die vorgefertigten Fragen hält und somit aus dem Interview eher ein entspanntes Austauschen und Klönen, wie man in Hamburg auch gerne zum Quatschen sagt, werden lässt. Drei Stunden später ist der Frühstückstisch leer gegessen, das iPhone mit über zwei Stunden Tonmaterial gefüllt und Boris hinterlässt zwei ebenso beeindruckte wie ratlose Redakteure: Nie im Leben bekommt man das alles ordentlich zusammengefasst.
Bekommt man doch! Und davon kann man sich hier überzeugen.
Wir wollen heute mit dir klären, was eigentlich die tiefere Bedeutung unseres Namens ist. Den Spruch kennt jeder, aber man kann ihn ja unterschiedlich interpretieren. Ist das eher ein „Früher war alles besser“ oder „Zum Glück ist das heute anders“. Und wen könnte man da besser zu befragen, als jemanden, der früher und heute bestens kennt.
(lacht) Ja klar. Deswegen habt ihr mich ja eingeladen. Weil ich noch einer von denen bin, die berichten können, wie es damals war. Wie sich das alles im Laufe der Zeit verändert hat.
Wenn man in deine Vita guckt, tauchen da Namen auf, die schon sehr beeindruckend sind, wegen ihrer Geschichtsträchtigkeit. Wie bist du denn an die rangekommen? Man spaziert ja nicht einfach zu denen ins Studio und sagt: „Moin, ich bin Boris, lasst mal was zusammen machen…“
Äh, irgendwie doch. Eigentlich wars fast genau so, nur dass ich nicht direkt was mit denen „machen“, sondern erstmal nur Platten, also Promos bekommen wollte…
Du bist für Promos nach New York geflogen?
Ja klar! Ich war damals bei EDEL, dem Vorreiter von Kontor. Ich kam da über Jens Thele hin, den heutigen Kontor Chef. Der ist ein guter Freund von mir, mit dem habe ich damals bei Traktor zusammen im Plattenladen gearbeitet. Der hat mir dann den Job bei EDEL verschafft. Neben dem DJing hatte ich auch Wirtschaftsgymnasium gemacht und gedacht, ich muss auch noch mal was Ordentliches machen. Ich war 20 oder 21 damals. Deswegen hab ich da angefangen. Ich hab dann so EDEL-Importservice gemacht, so nannte ich das. Ich hab für teures Geld aus New York Platten importiert, in kleinen Stückzahlen, von den damals coolen, kleinen, angesagten Labels: Strictly Rhythm, King Street, Nervous, was es da so alles gab. Und um da die Kontakte aufzubauen, musste man natürlich auch mal rüber. Und ich war auch früher schon mit Martin Larsen von Container Records und  Oliver Grabowski oft in New York und in den Plattenläden gewesen. Und auf den Platten stand ja immer die Adresse drauf.
Und dann biste da einfach mal hin?
Ja, zu Nervous Records am Broadway, wie hießen die anderen Läden noch? Johnny D und Nicky P, die hatten so wahnsinnig viele Label… Fourth Floor, Lower Level, Northcott Productions hießen die. Hatten auch Studios, Tomy Musto, Frankie Bones und so, ja, und dann bin ich da hingegangen, und so Hallo, guten Tag, das war auch völlig normal. Dann ist man reingegangen ins Büro und irgendwann, wenn du dann dreimal da warst, dann kannten die dich auch. Michael Weiss von Nervous Records zum Beispiel. Klar, dann hab ich nach Promos gefragt und die auch bekommen.
Das ist ja echt cool! Man geht da einfach so rein… Aber du hattest wahrscheinlich ne Karte, oder? Ich bin der und der…?
Nee.
Nee? Einfach so da rein?
Einfach so da rein! Ich glaube nicht, dass da jetzt jeden Tag 20 Leute reingekommen sind, aber ein paar haben das sicher so gemacht. Also ich hab dann zwar gesagt, ich hab ne Radiosendung, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die davon schon gehört hatten. Das war ja noch vor Moloko und allem anderen. So 1990-94. Und dann waren auch immer irgendwelche Partys, Louie („Little“ Louie Vega, Anm. d. Red.) spielte da, Frankie Knuckles in der Soundfactory, Timmy Regisford im Shelter und so. Da bin ich natürlich hingegangen. So richtig los gings dann über Marlboro. Die haben damals viele Touren gemacht und auch Masters At Work gebucht, Cajmere, David Morales und Todd Terry und dann haben die immer noch einen lokalen DJ dazu genommen. Das war dann halt oft ich. Dann gabs da so ne Marlboro-Tour, heute Hamburg, morgen Köln, übermorgen München und dann ist man mit den Jungs halt drei Tage lang am Stück zusammen gewesen. So hatte ich natürlich ein bisschen Anknüpfung. Meine damalige Bookerin und Agentin Andrea Junker von housefrau-TV… sagt euch das vielleicht was?
Ja, auf Viva damals.
Ja, genau, das war Andrea Junker, die hat das gemacht. Und die war auch meine Bookerin. Immer total gut vernetzt. Die hat dann zusammen mit Avantgarde, so ner Agentur aus München, immer diese Marlboro-Touren gemacht. So, dann ist man den Jungs wie gesagt näher gekommen und ne Woche später war ich in New York. Dinner bei Frankie zu Hause. Louie hatte vorher schon gesagt, „ja, komm vorbei“ und dann bin ich zu Louie nach Hause. Der hatte ja mit India zusammen ein Haus oder ne Wohnung, ich weiß noch, das war so beeindruckend. In Amerika ist ja immer alles etwas größer und die hatten einen Fernseher, der war, so ungelogen, hier die Wand (zeigt auf die Esszimmerwand).
Damals schon?
Ja. Röhre war es nicht, es war irgendwas zwischen, nee, es war kein Projektor, es war schon ein Fernseher.,. aber abartig groß! Egal! Und so eben auch die Studios. Louie lud mich ins Studio ein. Da saß dann Kenny Dope an der SP12, dieser Drum-Machine, hat Beats produziert, in einer Lautstärke… Unglaublich… Sieht halt total spackig aus, da sitzt da so ein Ungetüm und knallt da die fettesten Beats raus… Ich hab mich in die Ecke gesetzt und hab so n bisschen zugeguckt, wie die gejammt haben . Dann kam der Bassist rein, hat ein bisschen gespielt. Und bei Frankie Knuckles war es auch so. So haben wir dann später auch gearbeitet. Viel mit Musikern gejammt.
Frankie Knuckles hattet ihr doch auch mal im Front, oder?
Jo. Damals waren ja Michi Lange und ich Residents und irgendwann haben wir dann gedacht, laden wir uns mal Fankie ein. Das erste Mal ein Booking. Ich hatte mit Bookings, auch so mit Gast-Bookings von internationalen Größen überhaupt keine Erfahrung. Dann kam da sein Rider, „Das will ich, das will ich,“ und wir so, „Oh Gott, oh Gott,“… Weiß nicht… blablabla Getränke, frisch gewaschene Handtücher und so weiter. Wir haben dann in diese beiden Handtücher „Frankie Knuckles“ einsticken lassen. Um da noch mal einen draufzusetzten und so ein bisschen als Verarschung aber auch. So ne Handtuchbestickung kost’ ja nix!
Für wie viel könnte man das heute wohl verkaufen, den Schweiß von Frankie Knuckles aus dem Front, also da würden vielleicht schon ein paar Leute drauf bieten…
Dann haben wir die blauen Scheiben rausgenommen, weil wenn du Frankie Knuckles buchst, willst auch, dass die Leute das mitbekommen. Im Front war ja immer so ne Kabine mit so blau verglasten Bullaugen, wo du nicht so richtig durchgucken konntest. Die haben wir dann wie gesagt rausgenommen. Und er wollte Technics 1210er haben, wir hatten aber noch die richtig alten, geilen Thorens-Laufwerke. Und dann kam er halt an, alles gecheckt vorher und sah die Thorens in der Ecke stehen und meinte: „Ey was, ihr habt die? Packt die da sofort wieder hin, die sind ja viel geiler.“ Der macht das natürlich seit 77, der hat immer auf Thorens-Plattenspielern gearbeitet.
Wahrscheinlich noch so richtig mit Disco-Sounds.
Genau. Jedenfalls kursieren da ja jetzt mittlerweile viele Original-Mitschnitte von damals im Netz und da merkt man wieder… also viele denken ja heute, 1986, 1987, das war ja damals alles nur Chicago-House, aber das machte gerade mal so 20 % des Abends aus und ansonsten lief da noch ganz andere Musik. Einfach, weils auch noch gar nicht genug gab.
Jaaa, und so ist man den Leuten halt näher gekommen. Meine erste Platte, „Keep Pushing“ hat zum Beispiel auch Louie als erstes bekommen, hat die gespielt und gemerkt, wie die abgeht und die dann für Masters At Work Records gesignt.
Und das Tolle daran: Diese Beziehungen halten bis zum heutigen Tag. Neulich hatte ich ein Problem mit Recordbox und hab das getwittert, weil ich nicht weiter wusste, und als erstes hat Kenny Dope geantwortet. „Boris, was los, get in touch with my man!“ Und hat mir dann den Kontakt zu irgend so nem Spezialisten da geschickt und am nächsten Tag nachgefragt, ob alles geklappt hat.
Irgendwie kommt da ja früher oder später auch immer der Begriff „Alte Schule“. In Verbindung vielleicht auch mit einem ganz anderen Erleben der Party- und Clubszene damals. Da ist irgendwie selbst bei Jüngeren ein ganz anderes Empfinden, was das „Früher“ angeht. Die Welt von Ian Pooley, Laurent Garnier und Boris Dlugosch ist dann doch eine andere als die heutige, und das wissen und spüren sogar die, die noch gar nicht so alt sind. Ohne jetzt das Wort Ehrfurcht zu bemühen, aber es geht ja in die Richtung. Dieses instinktive Wissen, dass das irgendwie eine echtere Musikwelt war als die heutige, mit der ganzen Internetblase drumrum. Passt das für dich? Dieser Begriff „Alte Schule“?
Also ich finde das ja eigentlich schön, diese Demokratisierung der Produktionsmittel, sag ich mal. Du hast irgendeinen billigen PC-Laptop, lädst dir für umme eine Software sowie ein paar Plug-Ins runter und kannst Musik machen. Aber es ist schon so, dass die alte Schule halt ne andere war. Bei uns war es so, das hat unheimlich viel Geld gekostet und du brauchtest die Mittel. Ein Synthesizer und eine Drum-Machine hat dich nun auch nicht viel weitergebracht. Du brauchtest ein Mischpult, Outboard-Effekte, weil mein Anspruch war es ja nicht, ich mach hier jetzt ne billige Chicago-Nummer mit einer Drum-Machine und einem Synthesizer, wo es rauscht und knistert und knackt – was auch cool ist, aber mein Anspruch war halt eben Masters At Work, mit ihrem polierten, fetten Sound: vom Allerfeinsten. Also bin ich zwangsläufig erst mal in einem „richtigen“ Aufnahmestudio gelandet und hab vieles gelernt während dieser Zeit, bevor ich überhaupt anfing eigene Sachen zu produzieren.
Dieses Wissen und diese Möglichkeiten: Synthesizer, die Drum-Machine… Klar gab es Samples und wir haben natürlich auch viel gesampled, aber das allein ist es ja auch nicht. Wir mussten z. B. für unseren ersten Remix, die erste Auftragsarbeit, für Captain Hollywood extra einen neuen Sampler kaufen, einen ENSONIQ ASR-10, weil wir im alten EPS nicht genug Speicher für den ganzen Rap hatten.
Captain … Hollywood?
Ja, war mein erster bezahlter Job, glaub ich….
Der 90iger Jahre Dancefloor Dingsbums?
Ja, genau. Es gab halt relativ viel Geld von der Plattenfirma, sodass wir den Sampler kaufen konnten. Die wollten einen coolen Mix haben – also wenn ich mir das heute anhöre, ist das natürlich alles andere als cool. Und es klingt auch unprofessionell. Aber egal!
Captain Hollywood – All I Want (What The Underground Wants Remix)
Hatten die Vorgaben zum Remix gemacht oder hattest du Freiheit: Ich mache daraus, was ich will?
Nein. Heute kann das schon passieren, dass Majors Sachen ablehnen, oder „Verbesserungsvorschläge“ gemacht werden. Früher: scheißegal – mach mal. Dann hat man das irgendwann rübergeschickt. Manchmal kam nicht einmal ein Feedback – vielleicht auch, weil es dem Empfänger nicht gefallen hatte, aber irgendwie ist dann alles immer veröffentlicht worden.
Und es war ja auch nicht unüblich, dass teilweise die Remixe deutlich erfolgreicher waren als die Originale. Kam und kommt öfter mal vor.
„Sing It Back“ zum Beispiel?
(lacht) Kann sein, weiß ich nicht. Da gibt’s einige Geschichten drüber, auch schon über das Original. Moloko waren damals knapp vorm Aufhören und die Single hat dann erst dafür gesorgt, dass deren drittes Album „Things to make and do“ überhaupt aufgenommen werden konnte. Auf dem war dann unser Remix auch mit drauf, obwohl das „Sing it Back“-Original schon auf dem 1998er Album „I am not a Doctor“ war. Mit RóisÃn habe ich während meiner Laufbahn ja dann öfter zusammen gearbeitet…
Wenn man sich mal überlegt, welche Musikäras seitdem schon gekommen und gegangen sind. Hier in Hamburg auch so was wie Hardtrance…
Nee, Hardtrance ist komplett an mir vorbeigegangen!
Aber du hast es mitbekommen?
Na ja, mitbekommen schon. Aber das war nie meins!
Genau darum geht’s ja. Vieles nur mit bekommen, vieles aktiv mit geprägt… Was löst dieser ja gerade in diesem Biz doch sehr lange Zeitraum in dir aus? Wie hat Boris Dlugosch diesen stetigen Wandel der Szene erlebt?
Also ich würde sagen, dass ich diesen Wandel eher an mir selbst fest mache und nicht so sehr an Musikäras. An den Stationen in meiner Laufbahn, den Wendepunkten und so weiter. Und ich war schon immer einer, der auch tatsächlich verschiedene Richtungen, verschiedene Dinge ausprobiert und mitgemacht hat. Von vielen meiner Kollegen kennt man das ja eher so, dass sie die Sache, mit der sie groß geworden sind, auch mehr oder weniger immer noch genau so machen. So nach dem Motto: Du machst entweder House oder du machst Techno. Bei mir ist das nicht so. Wenn ich das Gefühl habe, dass eine bestimmte Musikrichtung sich nicht mehr weiter entwickelt, dann such ich mir was Neues.
Also dann doch eher nach vorne gucken und nicht so viel zurück..?
Ja schon… Natürlich habe ich diese ganzen Erinnerungen und denke an großartige Augenblicke zurück. Ich hab gerade vor ein paar Tagen ein Video von Todd Edwards gefunden, wie er vor etwas mehr als zehn Jahren in London auflegt. Und solche Momente hatte ich natürlich auch ganz oft. Dieser Moment… Du spielst ne Platte und du merkst… da passiert gerade was. Du merkst wie der Crowd das Herz aufgeht, wie die jubeln und einfach nur abgehen. Und genau dafür mach ich das ja. Das hat mich schon immer getrieben, das war mein Ziel. Ich will, dass die Leute die Arme hoch reißen… Aber nicht im Sinne von Deadmau5 oder Avicii… Da wird ja eher dem DJ wie einem Popstar zugejubelt… Sondern zu Tracks, die sie eben noch nicht tausendfach im Radio gehört haben. Zu Musik, die einfach spontan etwas in ihnen auslöst. Ich hab in einer dunklen Kabine angefangen, wo mich niemand aus dem Publikum sehen konnte und trotzdem ging es dort am meisten ab. Es geht in erster Linie um die Musik, nicht um den, der sie abspielt…..
Es gab ja auch durchaus mal die Zeit, wo das alles viel weniger DJ-zentriert war und die Leute nicht so stumpf auf die Bühne geschaut haben, sondern die Musik an sich noch viel mehr im Mittelpunkt stand. Der DJ macht irgendwie sein Ding und die Musik reißt alle mit.
Ganz genau. Stellt euch vor: Ich spielte damals zum Beispiel ne Acid-Nummer, vielleicht wars sogar Phuture – „Acid Tracks“ im 12 Minuten Mix und da drüber so n Acapella von Whitney Houston (trällert) „I wanna dance with somebody“, nur mal kurz rein… und die Leute drehen durch. Oder Klaus Stockhausen hat gerne mal Heintjes „Mama“ über irgendeinen coolen Clubtrack gemixt, nicht weil das jetzt die super tolle DJ-Kunst ist, sondern weil das einfach genau in diesem Moment passt. Dafür mach ich das.
Und trotzdem arbeite ich insgesamt schon zukunftsgerichtet. Also es ist jetzt nicht so, dass ich zu Hause sitze, meine analogen Kisten streichle und nur an damals denke….
Wobei, da hättest du wahrscheinlich auch viel zu streicheln.
(lacht) … ja ja, wobei ich schon sehr gern immer wieder auch alte Tracks einbaue in meine Sets. Und es ist auch jedes Mal so, wenn ich das mache, dass mindestens zwei, drei Leute ankommen und fragen, „Boah, was issn das?“ Weil das eben dann Musik ist, die heutzutage raussticht, die auffällt. Ich kann ja auch gar nicht Musik machen wie ein Zwanzigjähriger, der das alles nicht miterlebt hat. Insofern bin ich mit einem Ohr natürlich auch immer in der Vergangenheit. Früher lief halt „Autobahn“ von Kraftwerk im Radio aber genau so Abba oder die Beatles. Das ist ganz anders in meinem Schädel drin als bei dem viel Jüngeren, der das vielleicht gerade erst für sich auf YouTube entdeckt.
Oft wird das dann auch als neue Version, mit zwei Schnitten neu zusammengeklebt. Das feiern dann alle, aber für mich ist das total langweilig. Da denk ich dann tatsächlich: Das hab ich so schon 100x gehört. Da gehört dann für mich mehr dazu.
Ist das für dich auch ne Qualitätsfrage? Dass jemand der jünger ist einfach noch nicht die Erfahrung und vielleicht auch diese musikalischen Erinnerungen hat, wie jemand, der schon sehr viel länger dabei ist? Fehlt da nicht vielleicht manchmal dieses leicht Abgehangene?
Kann schon sein. Aber dann gibt’s auch so Jungs wie Soundstream, oder Motor City Drum Ensemble. Kennt ihr den? Auf den bin ich gerade erst letztes Jahr aufmerksam geworden.
Klar, den haben wir letztes Jahr auf dem Aerophilia Festival live gesehen. Der ist echt der Hammer. Legt ja mit drei Decks auf und sampelt noch live ins Set…Â
Genau. Und der baut halt dieses kollektive Gedächtnis an frühere Zeiten in seine Sets mit ein. Der spielt sein Zeug, was sich ja sowieso auch schon vielerlei aus diesen Kisten bedient und wenn er dann einfach mal ein Sample oder ein ganzes Stück aus den Siebzigern mit reinhaut, dann passiert bei der ganzen Menge was. Da gehen einfach die Arme hoch. Und das auch ohne, dass die das alle im Original kennen, oder damals miterlebt haben. Die sagen jetzt nicht: Oh, das hat aber Qualität. So denken die meisten Leute nicht. Aber es gefällt ihnen erstmal. Eben nicht so ein billo-klischeemäßiger Sound, sondern eine Nummer auf die du richtig hingearbeitet hast.
Und jetzt komme ich halt wieder zu einem Früher: Ich habe tatsächlich das Gefühl, das ging früher besser. In letzter Zeit spiele ich immer mehr Gigs, wo ich so denke: Hier kannste dich auf den Kopf stellen und nackt ausziehen, das interessiert gar keinen. Die hängen alle an ihren Telefonen, finden sich ganz toll… aber bewegen sich nicht ein bisschen. Die richtig tollen Abende, bei denen wirklich was geht, verbinde ich tatsächlich mehr und mehr mit Retro. Das nervt mich. Denn wie gesagt: Ich lebe im Hier und Jetzt, und ich könnte das auch locker mit zeitgenössischer Musik haben und erzeugen, aber… oft fehlt die Crowd dazu.
(macht Pause)
Natürlich gibt es diese Partys noch, aber sie werden seltener…..
Du meintest eben, die richtig geilen Abende verbindest du mit Retro. Hattet ihr nicht gerade erst eine FRONT-Revival-Party und hat sich da dein Eindruck bestätigt?
Ja, irgendwie entstand die Idee, mal ein FRONT-Revival zu machen. Nämlich mit den DJs die damals auch dort aufgelegt haben, also Klaus Stockhausen, Michi und mir. FRONT-Revival-Partys gabs zwar immer mal wieder, aber ohne uns, dafür in den Räumen, die früher mal das FRONT waren. Und wir haben uns ja extra dagegen entschieden es da zu machen, weil die Räume heute ja gar nix mehr vom FRONT-Flair bieten. Innerhalb kürzester Zeit hatten wir 1200 Leute in der Facebook-Gruppe und auf der Party waren so 900 Gäste. Die standen um zehn in Dreierreihen Schlange. Tolles Publikum! Im Schnitt wahrscheinlich Ü30. Also schon älter, als das Publikum, das ich sonst bespiele. Aber die waren euphorisch, hatten richtig Bock und sind auch einfach mal richtig durchgedreht.
Ein wahnsinnig schöner, einmaliger Ausflug in die Vergangenheit… Und ich hab da raus in die Menge geschaut und dachte in dem Moment wirklich: Das ist ja wie früher. Denn früher standen die Leute jeden Abend vor dem FRONT Schlange… ums Gebäude rum.
Und es gab einfach so Momente… (hält inne)… die haben durchgehend mitgesungen, nur gefeiert… „Love can’t turn around“ , „Everything Counts“ oder „I got my Education“, der Bass kommt rein und die Leute fallen um… Das war wirklich einer der schönsten Abende seit langem.
Ja, früher. Das war früher jeden Samstag. Und viele Popkünstler – damals war Hamburg ja wirklich Musikhochburg, Depeche Mode haben hier aufgenommen, Erasure, Jimmy Somerville – kamen dann eben am Wochenende ins FRONT…
Das kommt wahrscheinlich wirklich nicht wieder.
Jaaa, das kommt nicht wieder, das kann man nicht neu erzeugen, aber andererseits, das zehn Jahre erlebt haben zu dürfen, ist ja schon mehr, als viele sich erträumen können. Also insofern ist alles gut! Und das ist jetzt auch nicht per sé der Epoche geschuldet. Auch damals schon, wenn ich dann in andere Städte gefahren bin, die durchaus eine ähnliche Musiksozialisation erlebt haben, meinetwegen Köln oder Frankfurt… das war auch da schon nicht das selbe.
Was meintest du vorhin damit, du arbeitest schon sehr zukunftsgerichtet?
Na also, ich lebe ja im Hier und Jetzt, mache Musik für morgen, nicht für gestern.
Ist das denn so, dass mehr Musik machen auch bedeutet, mehr rum zu kommen? Dass man ein, zwei Hits draußen hat und dann geht’s erst mal bookingmäßig durch die ganze Welt?
Das ist absolut so. Als ich Bangkok draußen hatte gings auch wieder ab. Asien-Tour, Australien usw.. Wie damals zu „Peppermint Jam“-Zeiten in den 90igern. Es braucht diese „Hits“, die alle kennen und wollen.
Wo du gerade Bangkok sagst. Durchaus auch eine sehr ausgeprägte Station in deiner Laufbahn, diese Musikrichtung oder? Electro-House.
Oh ja. Neidklub-Zeiten.
Wo wir dich ja persönlich kennengelernt haben, damals. Da ploppen auch so geniale Remixe wie „Ponyboy“ von Lexy & K-Paul oder „I Thought That“ auf…
Lexy & K-Paul – Ponyboy (Boris Dlugosch Remix)
(lacht) Nicht schlecht. Die habt ihr gehört? Hab ich selbst eher selten gespielt, muss ich zugeben. Ich denke da eher an Boys Noize’s „Sweet Light“. Goose oder Hey Today!
Das waren Hits im Neidklub damals.
Aber auch diese Zeit ist echt n gutes Beispiel, für das, was ich vorhin meinte! Dieser Electro-Sound hat sich schon wieder überlebt….Und das ist das Problem. Die Musik ist in Amerika, Asien und Australien noch sehr erfolgreich, dort nun EDM gelabelt, aber mein Gefühl ist halt irgendwann gewesen, dass da entwicklungstechnisch Stillstand eingekehrt ist. Deswegen hab ich mir dann wieder was Neues gesucht.
Aber schon neu im Sinne von Back to the roots, oder? Wenn man sich deine aktuelle Single anhört…Â
Hm, irgendwie beides. Klar schon wieder housiger, aber trotzdem modern, find ich.
„Look around you“ ist ja auch ne Zusammenarbeit mit RóisÃn Murphy. Und ich weiß nicht mehr genau wann, 2002 oder 2003, hatte ich mit ihr so ne Session in London. Ich hatte da so einen Track, so ein Backing und wollte von ihr noch nen Song haben. Ich hab das mit ihr da in London aufgenommen und bin dann nach Hause. Damals hatten Michi Lange und ich uns gerade getrennt, wir hatten das Studio aufgelöst und irgendwie war ich uninspiriert und wusste mit dem Track nicht so recht was anzufangen. Ich hab dann verschiedene Ansätze probiert, aber nie ne gescheite Umsetzung gefunden. Also das, worauf sie damals gesungen hat an Musik, das gefiel mir nicht mehr, daraus ist dann später der Joe Goddard Track geworden. Irgendwann letztes Jahr war ich dann im Studio und hatte diesen Beat und diese Bassline… und so entstand – wie ich fand – ein ganz cooler Groove. Und das passte dann. Da dachte ich: Jetzt isses reif, jetzt kann damit was passieren. Insofern ist das ein Track, der in zwei ganz verschiedenen Zeitabschnitten entstanden ist.
Und hättest du dir vorstellen können, den damals schon in ein „passenderes“ Gewand zu pressen?
Ja eben nicht. Das war ja genau das.
Also es war von vornerein klar, dass der Sound halt nicht dazu gepasst hat und du ihn finden musstest.
Scheinbar war es so. Der musste halt erst reifen. Damals passte es nicht in mein musikalisches Umfeld und jetzt ist es ja quasi Deep-House. Bei mir ist es halt auf diese Art entstanden. Ich mach das so, wie ich das fühle.
Und bist so in einer neuen Musikrichtung angekommen. Wo bekommst du selbst denn neue Musik her?
Also ich bin völlig überfordert mit Soundcloud, selbst Beatport ist mir zu unübersichtlich geworden. Natürlich bekomme ich wahnsinnig viel geschickt, aber davon ist auch 90 % wie eh und je scheiße und wenn man früher 10 Promo-Platten geschickt bekommen hatte, bekommt man diese Woche eben 60 Files geschickt. Und auf unterschiedlichsten Playern, manche sind gut zu bedienen, manche total unübersichtlich und nervig in der Handhabung – das macht dann auch keinen Spaß. Ich verlass mich auf meine Freunde und Kollegen, die Sachen empfehlen, charten und zuschicken.
Da hattet ihr ja mit eurer Platte bzw. dem virtuellen Plattenspieler eine coole Idee.
Und das passenderweise zum Launch unseres Labels GOLDEN CITY SOUNDS! Ja, das war super! Ein richtiger Glücksfall, unser Vertrieb Kontor suchte nach einem Tool um ihre Titel bei Werbeangenturen zu platzieren. Zusammen mit NHB und Ogilvy entstand dann der Office Turntable. Dieses Tool ist natürlich der Kracher, und die suchten dafür gerade Musik und wir sind jetzt mit zwei Titeln drauf – super. Auf das Video haben die Leute weltweit toll reagiert. Damit wurden dann ja auch Preise in New York und Cannes gewonnen…
So ein Tool hätt es früher nicht gegeben…
(lacht) Wir sind also in der Frage, wie euer Satz gemeint ist, kein Stück weiter gekommen.
Irgendwie nicht. Schlimm?
Was heißt schlimm? Wir haben festgestellt, dass es letztendlich immer um diesen Moment geht, in dem die Leute die Arme hochreißen, in dem sie durchdrehen und die Musik mehr feiern als den Menschen, der da gerade vorne den Hampelmann macht. Um diesen Moment ging es früher, und um den geht es heute. Und er geht mit Musik von früher und mit Musik von heute.
Wenn du jetzt noch sagst, für den Moment hast du früher schon gelebt und für den lebst du heute noch, dann fangen wir an zu weinen…
(lacht) Ok, dann lass ich’s. Aber es stimmt! Und deswegen habe ich euch zwei Sets mit gebracht, die das beweisen. Ich habe sie „Past“ und „Present“ genannt, was ja selbsterklärend ist. Musik, mit denen ich damals solche Momente erzeugt habe und Musik, mit denen ich das heutzutage versuche. Und so lange mir das nach wie vor ab und zu gelingt, bin ich happy.
Wir danken dir. Das war wirklich ein richtig cooles Gespräch.
Fand ich auch. Und Danke fürs Frühstück!
_____________________________________________
GOLDEN CITY SOUNDS @ soundcloud